Thomas Bargatzky: Islam, Nationalstaat und Aufstiegsassimilation

Beitrag zu dem Sammelband „Gegen die feige Neutralität“

Thomas Bargatzky

Islam, Nationalstaat und Aufstiegsassimilation

Islamisierung in Deutschland?

Einer 2007 vom Büro für Arbeits- und Sozialpolitische Studien (BASS) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführten Untersuchung zufolge sind ganz allgemein über die Hälfte der in Deutschland lebenden Einwanderer der ersten und zweiten Generation wenig oder schlecht integriert. In der Bildung, bei den Sprachlenntnissen und der Teilnahme am sozialen Leben bestehen Defizite.(*FN*Bertelsmann-Stiftung: Gesellschaftliche Kosten unzureichender Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern. – Von: BASS (www.bertelsmann-stiftung.de).
*FN*) Muslimische Einwanderer, so scheint es, stellen eine besonders integrationsunwillige Gruppe dar, aber immer mehr Menschen in Deutschland – heißt es – treten zum Islam über. Zwangsheirat und Ehrenmorde, Integrationsverweigerung, Kalifatstaat und Parallelgesellschaft, Kopftuchmädchen und prüelnde Ehemänner, Werbung für den Jihad, Selbstmordattentäter und Haßprediger – kaum eine Woche vergeht, in der Muslime nicht Schlagzeilen machen, und zwar negative. Wie steht es aber wirklich um die Zahl der Konvertiten? Wie hoch ist die Zahl der Muslime in Deutschland? Wie hoch die Zahl der Türken? Was glauben Muslime in Deutschland und wie leben sie ihre Religion? Gibt es auch hier eine ›schweigende Mehrheit‹, die sich integrieren möchte und Deutschland als Heimat betrachtet, oder bestimmt eine radikale Minderheit, welchen Weg die muslimische Gemeinde einschlägt? Wer hierzu genaues erfahren möchte, stößt alsbald auf ein Dickicht kontroverser Meinungen und widersprüchlicher Informationen. Schuld an diesem Zustand ist nicht zuletzt auch die Wissenschaft, die das Thema über Jahrzehnte verschlafen hat: »Schön alt und möglichst weit weg musste das Forschungsobjekt sein. So kommt es, dass die deutschen Islamgelehrten mehr über Sufi-Dichter im alten Persien zutage gefördert haben als über Vorbeter in Deutschland«, schreibt Martin Spiewak treffend in der Zeit.(*FN*Spiewak (2007).
*FN*)
Die türkischstämmige deutsche Rechtsanwältin Seyran Ates bringt in einem Interview mit der Wiener Zeitung Der Standard auf den Punkt, was viele Deutsche denken: »Mir missfällt, wie sich muslimische Gemeinden, nicht nur in Österreich, sondern weltweit entwickeln: Sie politisieren den Islam, stellen ihren Glauben provokant und fordernd zur Schau. Und sie bauen Parallelgesellschaften auf … Ohne Scheu sagen junge Muslime in Kameras, dass sie jenes Land, in dem sie leben, verachten, dass deutsche Frauen Schlampen seien und dass man Frauen aus Tradition schlagen dürfe«.(*FN*Frauenrechtlerin Seyran Ates: »Die Multikulti-Haltung ist naiv«. STANDARD-Interview über aggressive Parallelgesellschaften, Zwangsehen und ängstliche Grüne mit Ausschlag, 25. April 2008, http://derstandard.at/PDA/?id=3315316
*FN*) Auf die Frage des Interviewers, ob es sich hier nicht um eine Minderheit handle, gab Ates die treffende Antwort: »Letztendlich ist es egal, wie viele es sind. Selbst wenn es sich um eine Minderheit handelt, ist sie stark genug, um die Mehrheit einzuschüchtern. So weit, dass man sich nicht mehr traut, über Zwangsheirat und Ehrenmorde offen zu reden«. Die islamistische Militanz erzeugt wiederum auf Seiten bestimmter Teile des westlichen Kultur-, Meinungs-macher- und Politikstablishments jene Mischung aus Feigheit, Appeasement und ostentativer Multikulturalismus-Euphorie, die Henryk M. Broder in seinem Buch »Hurra, wir kapitulieren« so trefflich geschildert hat.(*FN*Vgl. Broder (2006). Als Motto zitiert Broder einen Ausspruch Winston Chrchills: »An appeaser is one who feeds a crocodile, hoping it will eat him last«.
*FN*)
Nicht einmal die Zahl der Muslime in Deutschland ist genau bekannt; die Schätzungen schwanken zwischen 2,5 und 3,5 Millionen. Sie basieren meist auf Angaben des Herkunftslands der Einwanderer. Menschen türkischer Herkunft bilden die größte muslimische Gemeinde in Deutschland. Da bietet eine im Jahre 2002 von der türkischen Botschaft in Berlin herausgegebene und ins Internet gestellte Publikation zur Integration der Türken in Deutschland eine nützliche Handreichung. Sie basiert auf Untersuchungen deutscher Behörden und wissenschaftlicher Einrichtungen. Um nur einige der dort zusammengestellten Fakten aufzuführen: Bezogen auf den 31. Dezember 2000 betrug demnach die Geamtzahl der türkischen Staatsbürger in Deutschland: 1.998.534; von diesen waren 746.651, also 37,36% in Deutschland gebürtig. Bis Ende 2000 hatten 424.513 Türken die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Der Anteil derjenigen Türken, die im Alltag nur Deutsch, meistens Deutsch oder genausoviel Deutsch wie Türkisch sprachen, lag bei den 14 bis 18-Jährigen bei 87%, bei den 19 bis 29-Jährigen bei 75% und bei den 30 bis 39-Jährigen bei 67%. Nur 3% der Türken in Berlin waren gegen Sprach- und Integrationskurse für Angehörige, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland kommen sollten. 95% der Befragten hatten eine positive Einstellung gegenüber solchen Kursen.(*FN*Zur Integration der Türken in Deutschland. Allgemeine Behauptungen und Ergebnisse von Studien. Botschaft der Republik Türkei in Berlin, Publikations-Nr. 1. Berlin, November 2002.
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Die in dieser Publikation zusammengefassten Untersuchungen lassen es nicht gerechtfertigt erscheinen, den Menschen türkischer Herkunft, die in Deutschland bleiben wollen, generell mangelnden Willen zur Integration zuzuschreiben.(*FN*Ich verweise hier nur gleichsam im Vorübergehen auf den Medienrummel, den im Jahre 2006 der Beschluß der Berliner Herbert-Hoover-Realschule hervorrief, auch in den Pausen auf dem Schulhof nur Deutsch als Umgangssprache zuzulassen. Türkische Massenblätter wie Hürriyet, politische Ausländerorganisationen, die PDS und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth und Konsorten empörten sich über ›Zwangsmaßnahmen‹ wie das ›ausländerfeindliche und grundgesetzwidrige diskriminierende Verbot der Muttersprache‹ etc. Die Aufregung legte sich allmählich, als bekannt wurde, daß der betreffende Beschluß von den Eltern, Schülern und Lehrern der Schule gemeinsam gefaßt wurde, um die Integration zu erleichtern. Seither gilt die Schule als Vorzeigeobjekt. – Dieser
*FN*) Es erscheint daher als geraten, zwischen dem Islam in Deutschland und einem politisch instrumentalisierten Islam zu unterscheiden, der die Muslime in Deutschland und anderswo für bestimmte fremde politische Interessen zu instrumentalisieren sucht. Diesem Islam muß auf politischer Ebene mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden. Die Rede des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in der Köln-Arena am 10. Februar 2008 mit ihren provozierenden Bemerkungen zur Assimilation ist ein Musterbeispiel für solch eine Instrumentalisierung:
»Ich verstehe die Sensibilität, die Sie gegenüber Assimilation zeigen, sehr gut. Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assi-milation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«(*FN*Fall, der schlaglichtartig die Gemütslage einiger Mitglieder unserer politischen, journalistischen und kulturellen ›Elite‹ beleuchtet, ist im Internet gut dokumentiert, beispielsweise unter http://www.kompetenzzentrum-sprachfoerderung. de/index.php?id=193
7    Eine Übersetzung dieser Rede ist gut zugänglich, sie wird von mehreren Anbietern im Internet bereitgehalten. Ich verwende sowohl die von Welt Online angebotene gekürzte Fassung: (http://www.welt.de/welt_print/article1671967/Der_ tuerkische_Mensch_bringt_nur_Liebe_und_Freundschaft.html), als auch die ausführlichere der Wochenzeitschrift Junge Freiheit, in der einige politisch brisante Ausführungen enthalten sind, die in der Fassung von Welt Online gestrichen sind. Diese Fassung der Rede steht im Internet derzeit nicht mehr zur Verfügung.
*FN*).
Zwar fordert Erdogan seine Zuhörer auf, ihre Kinder Deutsch lernen zu lassen, da dies für sie nur von Vorteil sein kann. Aber er sagt auch unmißverständlich:
»Selbstverständlich werden unsere Kinder Türkisch lernen. Das ist ihre Muttersprache und es ist Ihr natürlichstes Recht, Ihre Muttersprache Ihren Kindern weiter(zu)geben«.
Unmißverständlich fordert Erdogan seine Zuhörer auf, über die politischen Instrumente und Institutionen die Politik ihres Gastlandes zu beeinflussen:

»Warum sollten wir keine Vertreter und Gruppen in den politischen Parteien haben? Warum sollten wir im deutschen Parlament, im EU-Parlament nicht noch mehr Vertreter haben? Warum sollten unsere Ansichten bei der Formulierung der Sozialpolitik der Länder, in denen wir leben, nicht zur Kenntnis genommen werden? Schauen Sie sich die amerikanischen Wahlen an. Achten Sie darauf, wie die Menschen aus unterschiedlichen Ländern im Prozess der Wahlen und nach den Wahlen bei der Formulierung der Politik Einfluss ausüben … Manche Gemeinschaften sind in der Lage, auch wenn sie nur aus einer Handvoll Menschen bestehen, basierend auf ihrem intensiv betriebenen Lobbyismus, die Politik eines jeden Landes, in dem sie sich befinden, zu beeinflussen. Sie können Druck ausüben, um Beschlüsse der Parlamente in den jeweiligen Ländern zu erwirken. Warum sollten wir nicht Lobbyismus betreiben, um unsere Interessen zu schützen?«
Was ist die Absicht hinter diesen Empfehlungen? Hierauf gibt Erdogan eine klare Antwort:
»Die Türkei hat keine andere Alternative als die Vollmitgliedschaft in der EU … Nun werden Sie, als unsere europäischen Botschafter und Botschafterinnen hier die Hindernisse, die uns auf den Weg gelegt werden, überwinden, in dem Sie Ihre demokratischen Rechte einsetzen, Sie werden sie … überwinden … Diejenigen, die gegen die Türkei das Wort ergreifen, diejenigen, die der Türkei auf dem Weg in die Mitgliedschaft Hindernisse aufbauen wollen, sollten vor sich die demokratische Macht der türkischen Gemeinde sehen und erkennen können … Ihre Probleme sind unsere Probleme. Seien Sie versichert, dass Ihre Angelegenheiten auch unsere Angelegenheiten sind«.
Auch Erdogans Feststellungen zur Meinungs- und Pressefreiheit verdienen es, hierzulande beachtet zu werden:
»Die Pressefreiheit kann niemals unbeschränkt sein. Die Meinungsfreiheit kann niemals unbeschränkt sein«.
Erdogan errichtet mit seinen Worten ein türkisches Protektorat auf deutschem Boden, das als verlängerter Arm der türkischen Regierung die nationalen Interessen der Türkei fördern soll! Es wäre die Pflicht unserer Regierung und der politischen Klasse gewesen, Erdogan entschieden und unmißverständlich entgegenzutreten, stattdessen kam von dieser Seite nicht mehr als ein pflichtschuldiges Grummeln. Wie man mit Erdogan hätte verfahren sollen, hat im Jahre 1967 der damalige kanadische Ministerpräsident Lester Pearson vorgeführt. Frankreichs Staatspräsident Charles De Gaulle hielt seinerzeit, während eines Staatsbesuchs, in Québec jene berühmte Rede, in der die Worte fielen: »Vive le Québec libre«. Pearson erklärte umgehend, dass De Gaulle in Kanada nicht mehr erwünscht sei, worauf der General das Land verließ und beschämt nach Frankreich zurückkehrte. Auch der türkische Ministerpräsident hätte sofort zum Verlassen der Bundesrepublik aufgefordert werden müssen. Zu einem ähnlich entschiedenen Vorgehen wie seinerzeit Pearson ist unsere rückgratlose politische Klasse jedoch nicht in der Lage.
Staat, Nation, Volk
Für die Erosion der nationalen Identität der USA in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Gefolge der massiven Einwanderung aus Lateinamerika macht Samuel P. Huntington u.a. den großen Einfluß der Lehre von der Multikulturalität auf Denken und Handeln des Elitesegments der amerikanischen Gesellschaft verantwortlich. Unter dem Einfluß dieser Doktrin konnte sich ein geistiges und politisches Milieu entfalten, in dem die Assimilation weder gefordert noch gefördert wurde.(*FN*Huntington (2004: 18 f.).
*FN*) Hält man sich die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und Europa vor dem Hintergrund der Einwanderung insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern vor Augen, so ist es durch-aus vorstellbar, daß Europa einen ähnlichen Weg geht wie die USA, daß Deutschland in fünfzig Jahren vielleicht das zweitgrößte türkisch-sprachige Land Europas sein wird. Rufe nach der Gründung eines ›Kali-fat-Staates‹ auf deutschem Boden könnten dann durchaus wieder laut werden, dann aber mit größerer politischer und demographischer Durchschlagskraft. Eine solche Entwicklung wüde geschichtlicher Logik entsprechen, denn die Existenz von Nationen ist der Ausnahmefall in der Geschichte; multikulturelle Systeme sind die Regel.(*FN*Weißmann (2006).
*FN*) Historische multikulturelle Gesellschaften – vom Reich der Assyrer bis hin zum Gulag des Josef Stalin – waren Despotien, sieht man von der kurzlebigen Donaumonarchie ab, die an ihrer Völkervielfalt zugrunde ging. Bevor sich die deutschen und europäischen Eliten, so wie die US-amerikanischen, von der Idee der Nation verabschieden, sollten sie daher innehalten und sich fragen, ob die multikulturelle Gesellschaft tatsächlich der tolerante, herrschaftsfreie, bunte, liebenswerte und gewaltfreie politische Raum ist, den sich sich erträumen.
Die Nation: das ist die durch gemeinsame Sprache, gemeinsame – oftmals ›erdachte‹ – Geschichte und gemeinsame kulturelle Identität zum Ethnos verbundene Schicksalsgemeinschaft. Die Nationen eroberten in Europa gleichsam den Staat und bauten ihn von Grund auf zum Nationalstaat um. Eine Nation existiert nur dann, wenn Menschen sich als Nation denken und empfinden. Die Vorstellungen von den Kriterien der nationalen Eigenart sind äußerst wandlungsfähig.(*FN*Siehe Huntington (2004: 107); Weichlein (2006) bietet reiches Anschauungs-material.
*FN*) Nationen besitzen dennoch integrative Kraft, denn sie beruhen immer auf einer Menge undiskutierter, weil durch die Geschichte selbstverständlich gemachter, Vorstellungen und Verhaltensweisen. Sie setzen eine Homogenität voraus, aber nicht in einem rassischen oder ›völkischen‹ Sinn, sondern in einem kulturellen, der die Beherrschung der Sprache als erster großer Heimat des Menschen einschließt, aber in der Sprachbeherrschung nicht aufgeht.
Vor allem die Industrialisierung war in Europa von größtem Einfluß auf die Durchsetzung des Nationalstaatsgedankens, denn sie erzwang eine Mobilität in zuvor noch nie gekanntem Ausmaß(*FN*Huntington (2004: 265), Weichlein (2006).
*FN*) Nach der Auflösung der alten Ortsbindungen durch Großfamilie oder Grundherrschaft stärkte die Industrialisierung daher den Wunsch nach einer überlokalen Identität, die einem auch dann verblieb, wenn man den Ort wechselte. Ohne diese psychische Abfederung im Nationalgefühl wäre die Transformation der Gesellschaft im Industriezeitalter wohl kaum gelungen. Nation und Nationalstaat sind moderne historische Gebilde, sie sind der Ausdruck moderner Lebensverhältnisse.
Der Globalisierung zum Trotz ist im Westen die Nation in der Moderne immer noch die umfassendste identitätstiftende menschliche Symbioseform, die zur Identifikation einlädt und Identifikation möglich macht. Nur sie kann die Aufgabe lösen, in einer Zeit des verstärkten Migrationsdrucks den Bewohnern eines bestimmten staatlichen Gebildes, welchen ethnischen Hintergrund auch immer sie haben mögen, gewisse gemeinsame Überzeugungen und Orientierungen näherzubringen, ohne die ein Gemeinwesen nicht bestehen kann. Die Beschwörung von Toleranz als Leitidee für die von vielen herbeigeträumte ›multikulturelle Gesellschaft‹ macht ja zur Zeit der Erkenntnis Platz, daß dieser Gesellschaft die Tendenz innewohnt, in eine Vielfalt von Gruppen und Gemeinschaften ohne verbindliche gemeinsame Werte auseinanderzudriften. Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio konfrontiert daher die bislang in Deutschland praktizierte Toleranzpolitik und ihre Integrationsofferten, die der kulturellen Fragmentierung der Gesellschaft entgegenwirken sollen, mit der Frage, warum sich denn Angehörige anderer und vitaler Kulturen überhaupt in die westliche Kultur integrieren sollen, wenn deren Träger selber dabei sind, sich von ihr zu verabschieden.(*FN*Di Fabio (2005: 50 f.).
*FN*) Nicht die Ausländer sind das Problem, die Deutschen selber sind es, da sie anscheinend nicht mehr in der Lage oder auch nur willens sind, den Zuwanderern, ihren Kindern und Enkeln eine Gesellschaft zu bieten, in die sie sich integrieren können oder wollen.
Assimilationsprozesse haben immer wieder eine eine große Rolle in der Nationalstaatsbildung gespielt, etwa in Deutschland bei der Assimilation polnischer Bergarbeiter und ihrer Nachkommen im Ruhrgebiet zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ist also die Assimilation von Einwanderern ein ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹, wie Ministerpräsident Erdogan behauptet? Ein Blick in die Geschichte aus ethnologischem Blickwinkel belehrt uns eines besseren.
Die Theorie des ›interethnischen Gefälles‹
In seiner Theorie des ›interethnischen Gefälles‹ hat Wilhelm Emil Mühlmann vor über vierzig Jahren anhand zahlreicher Beispiele dargestellt, daß die sogenannten ›Naturvölker‹ nicht als homogene Ethnien gleichsam horizontal nebeneinander stehen. Sie sind vielmehr in der Regel Komponenten umfassender und dynamischer interethnischer Systeme, die eine vertikale Staffelung nach Populationsgröße, Einfluß, Aktivität, politischer Macht, geistiger Macht und Expansionskraft aufweisen.(*FN*Vgl. Mühlmann (1962: 301-358; 1964). Seitens der politikwissenschaftlichen Imperium-Forschung greift Herfried Münkler (2005) die Problematik interethnischer Gefälle im Zusammenhang mit der Imperium-Bildung auf.
*FN*)
Durch die Probleme der Einwanderung in die modernen westlichen Industriestaaten gewinnen Mühlmanns Überlegungen erneut Aktualität. Ein interethnisches System dieser Art kann nämlich als dynamisches Gefälle des Assimilationsdrucks geschichtswirksam werden. Unter ›Assimilation‹ verstehe ich, im Anschluß an Mühlmann, den »Übergang kleinerer oder größerer Teile eines bestimmten Volkstums in ein anderes Volkstum, verbunden mit einem Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung«(*FN*Mühlmann (1964: 173), kursiv im Text.
*FN*). Die mittleren und oberen Ethnien im interethnischen System bauen ihre demographische Substanz zu einem nicht geringen Teil aus Menschen auf, die den jeweils nächstniedrigeren Ethnien gleichsam ›abgezapft‹ werden. Damit korrespondiert ein Drang nach Übergang in eine andere Ethnie, die im interethnischen Gefälle einen höheren Platz einnimmt. Mühlmann spricht in diesem Zusammenhang von ›Aufstiegsassimilation‹. Man findet sie nicht nur in interethnischen Systemen, sondern sie begegnet uns auch in komplexeren Einzelgesellschaften. In den Oberschichten entstehen immer wieder Lücken, sei es infolge von Kriegen, oder durch geringere Fortpflanzung. In diese Lücken rücken Angehörige der sozial unteren Schichten nach. Das ›Volk‹ ist also weniger ein Zustand, als ein dynamischer Prozeß, in dem es verschiedene Stufen und Phasen der Entwicklung gibt.(*FN*Mühlmann (1964: 137-193).
*FN*)
Der ethnographisch-historische Kulturenvergleich zeigt also unzweideutig, daß die Assimilation, als integrierender Prozeß, keine ethnische Pathologie darstellt, sondern, ganz im Gegenteil, der historische Normalfall ist. Und – kontra Erdogan – sie ist auch kein ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹.
Politische Konsequenzen
Die iranische Juristin Hamideh Mohagheghi, die seit Jahren in Deutschland lebt, verweist in ihrem Internet-Artikel »Der Islam in Deutschland«(*FN*www.al-sakina.de/inhalt/artikel/amg/mohagh/mohagh.html
*FN*) auf die lange Tradition der Anwesenheit von Muslimen in Deutschland und bezieht sich dabei u.a. auf eine Friedrich II. zugeschriebene Antwort auf eine Anfrage des Direktoriums, ob ein Katholik Bürger einer preußischen Stadt werden dürfe. Der König schrieb dazu: »Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie ausüben, ehrliche Leute sind; und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen«(*FN*In einer popularisierten Zitatensammlung ist der Originaltext abgedruckt: »Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren, Erlige leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wollten das Land pöplieren, so wollen wir sie Mosqueen und Kirchen bauen« (Friedrich II. Wonach er sich zu richten hat. Urteile und Verfügungen; Georg Piltz, Hrsg. Berlin: Eulenspiegel Verlag 2002, S. 66).
*FN*).
Nun sind das heutige, dicht bevölkerte Deutschland und das seinerzeit unterbevölkerte Preußen hinsichtlich der ›Pöplierung‹ kaum miteinander zu vergleichen: In der Bundesrepublik gibt es keinen Oderbruch mehr, der bevölkert werden müßte. Auch hinsichtlich der friede-rizisch-preußischen Toleranz lagen die politischen Verhältnisse seinerseits anders, als im Deutschland von heute: »Preußen steht für die Hoheit des Staates, für die Idee, dass der Staat die gesamten Interessen der Zivilgesellschaft in sich aufnimmt«(*FN*»Ein Bollwerk der Demokratie«. Interview mit Christopher Clark, Der Spiegel Special: Preussen. Der kriegerische Reformstaat, Nr. 3/2007, S. 156.
*FN*). Der Starke Staat, die Loyalität seiner Beamten, das auf Freiheit und Autorität gleichermaßen ruhende Staatsidee waren die Voraussetzungen für die vielgerühmte preußische Toleranz in Glaubensdingen. Daran fehlt es aber im heutigen Deutschland. Einen ›Kalif von Köln‹ hätte man in Preußen nicht geduldet.
»Wer wenigstens einen Teil der hier lebenden Einwanderer inte-grieren will, darf die Hürden nicht an der falschen Stelle aufbauen und nicht zu niedrig halten. Er muß dem Ankömmling Anpassung abverlangen und ihm mit dem Selbstbewußtsein entgegentreten, das einem großen Volk und einer alten Kulturnation gebührt. Dann sehe ich durch-aus Möglichkeiten des Gelingens. Jemand hat das einmal auf das anschauliche Beispiel gebracht, daß zu den erfolgreichsten U-Boot-Kommandanten der kaiserlichen Marine ein Mann mit dem klangvollen, aber nicht sehr deutschen Namen Lothar Arnauld de la Périere gehörte. Warum sollte sich nicht zukünftig ein deutscher Truppenkommandeur auszeichnen, der Peter Orhan Acar heißt? Bei alledem bin ich nicht zu pessimistisch«(*FN*Interview in der Wochenzeitung Junge Freiheit, 23/06, 2. Juni 2006, S. 3.
*FN*).
In diesen klugen Worten der Historikers Karlheinz Weißmann liegt die Antwort auf die Frage nach dem Warum und dem Wie der Assimilation. Was wir brauchen sind keine gepflegten Streitgespräche über begriffliche Kopfgeburten, wie etwa die Idee der ›Leitkultur‹, sondern funktionierende Institutionen, die aus dem Sohn türkischer Einwanderer den deutschen Handwerker, Verwaltungsangestellten, Beamten, Professor oder Truppenkommandeur machen – oder einen großartigen Kabarettisten wie Django Asül! Sonst werden zukünftige Historiker auf Deutschland als Beispiel einer Abstiegsassimilation weisen, und nicht als weiteres Beispiel für den historischen Regelfall der Aufstiegsassimilation.

Bibliographie
Di Fabio, Udo: 2005: Die Kultur der Freiheit. München: Beck.
Broder, Henryk M.: 2006: Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Berlin: wjs Verlag.
Huntington, Samuel P.: 2004: Who Are We? The Challenges to America’s National Identity. New York etc.: Simon & Schuster.
Mühlmann, Wilhelm Emil: 1962: Homo Creator. Abhandlungen zur Soziologie, Anthropologie und Ethnologie. Wiesbaden: Otto Harrassowitz.
Mühlmann, Wilhelm Emil: 1964: Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie. Neuwied und Berlin: Luchterhand.
Münkler, Herfried: 2005: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt.
Spiewak, Martin: 2007: Meinungsstark, aber ahnungslos . Die Zeit 17 (2007), S. 37 (http://www.zeit.de/2007/17/B-Islam).
Weichlein, Siegfried: 2006: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Weißmann, Karlheinz: 2006. Biblische Lektionen. Sezession Heft 13, S. 8-14.

 

 

 

 

 

 

 

 

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